Cornelia R e g i n :
"Der Verfall des ländlichen Leinengewerbes im Kreis Hersfeld in
der Zeit der Industrialisierungskrise" [und die Auswanderung nach
Amerika in der Zeit um 1850] - Ausschnitte [1987]
"Auf Dauer konnte sich das Leinengewerbe nur dort halten, wo die
Arbeitsgänge, zumindest aber die Garnherstellung mechanisiert
wurde und man sich auf Qualitätserzeugnisse spezialisierte. Die
enge Verflechtung des Leinengewerbes mit der Landwirtschaft stand
einer fabrikmäßigen Organisation hemmend im Wege. Das immer noch
wachsende Arbeitskräfteangebot und die überlebensnotwendige Bereitschaft
der ländlichen Bevölkerung durch noch mehr Arbeit und Anstrengungen
im Ackerbau trotz ständig fallender Preise die maschinell hergestellten
Textilien quasi zu "unterhungern", machte das in der Heimindustrie
produzierte Leinen immer noch konkurrenzfähig. So wurde im Kreis
Hersfeld noch Ende der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts wie
schon seit Jahrhunderten gesponnen und gewebt. Es gab keine Färbereien,
und man bleichte immer noch mit Holzasche, Soda und Sonne wie
seit ehedem. .....
Mit der Erntekatastrophe der Jahre 1846/1847 erreichte die Not
der Bevölkerung ihren ersten Höhepunkt. Die Kartoffelkrankheit
vernichtete große Teile der Ernte und trieb die Preise in schwindelnde
Höhen: 1847 stiegen die Kartoffelpreise um 55 Prozent. Dazu fiel
auch noch die Getreideernte so schlecht aus, daß auch die Getreidepreise
in die Höhe schnellten, durchschnittlich um über 40 Prozent. Die
Teile der Bevölkerung, die auf den Zukauf von Nahrungsmitteln
angewiesen waren (auf dem Land ca. 85 Prozent der Betriebe, in
der Stadt mindestens genausoviele Haushalte), mußten hungern und
verschuldeten sich. In zahlreichen Zeitungsartikeln wurden Maßnahmen
zur Bekämpfung der Kartoffelkrankeheit propagiert. Die Behörden
versuchten, eine gerechte Verteilung von Saatgut und Setzkartoffeln
zu bewirken. ..... Auf dem Land griff die hungernde Bevölkerung
angesichts der allgemeinen Erschütterung der alten Ordnung und
der Verunsicherung ihrer Träger zur Selbsthilfe. Wildern und Fischereivergehen
waren an der Tagesordnung. Sogar das Plündern der Stadt [Hersfeld]
war zu befürchten. ..... .
Schon in den Jahren 1837 bis 1847 hatten mehr als 1000 Menschen
dem Kreis Hersfeld endgültig den Rücken gekehrt. Die ständig sich
verschlechternde wirtschaftliche Lage nahm vielen die Aussicht
auf eine gesicherte Zukunft in ihrer Heimat. Sie kratzten ihre
Ersparnisse zusammen und verkauften ihren kleinen Besitz, um für
sich und vielleicht auch ihre Familien im Ausland eine neue Existenz
aufzubauen. Infolge der Mißernten der Jahre 1847 und 1854 bis
1856 nahm die Armut solche verheerenden Ausmaße an, daß sich immer
mehr Menschen zu diesem Schritt entschlossen. ...
Wenn anfangs die Auswanderer vor allem aus Hersfeld kamen, so
waren nach und nach die Landbewohner deutlich in der Überzahl.
In den Jahren 1852 bis 1864 verließen nach Angaben der Behörden
2673 Personen den Kreis. Vermutlich waren es aber noch weit mehr,
da nicht alle statistisch erfaßt wurden. ...
1856 allein verließen mindestens 349 Menschen den Hersfelder Raum,
1857 sogar 403. Danach pendelte sich eine Auswanderzahl von durchschnittlich
140 Auswanderungen pro Jahr ein. Die meisten von ihnen waren gesunde
und erwachsene Männer (49,5 Prozent), von denen wiederum die Mehrzahl
(87 Prozent) zwischen 14 und 25 Jahre alt war. Der überwiegende
Teil waren Handwerker, Tagelöhner und Arbeiter. Mit ihrer Auswanderung
verlor Kurhessen nicht nur viele seiner besten Arbeitskräfte,
sondern büßte auch gewaltige Geldsummen ein, denn jeder Auswanderer
nahm durchscnittlich ein Vermögen von 101,45 Talern mit.
Die überwältigende Mehrzahl von ihnen ging nach Amerika (85,5
Prozent), nur ca. 10 Prozent in andere deutsche Staaten. Für teures
Geld vermittelten Agenturen, die in den Zeitungen inserierten,
Karten und Platzreservierungen auf den Auswandererschiffen. ...
Insgesamt verlor der Kreis [Hersfeld] von 1849 bis 1885 mehr als
26 Prozent seiner Bevölkerung. In Deutschland insgesamt dagegen
wuchs die Bevölkerung allein in den Jahren 1850 bis 1875 um 18,6
Prozent."
Quelle: Regin, Cornelia: Der Verfall des ländlichen Leinengewerbes
im Kreis Hersfeld in der Zeit der Industrialisierungskrise, in:
Mein Heimatland - Zeitschrift für Geschichte, Volks- und Heimatkunde
(Monatliche Beilage zur Hersfelder Zeitung), Band 32 (1987), S.
77 f. .
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